Home / #vonwegenegal  / „Was ist mit euch los, so etwas herumzuschicken?“

„Was ist mit euch los, so etwas herumzuschicken?“

Schulleiterin und Bestsellerautorin Silke Müller im Ernschtle-Interview

Kurz vor Redaktionsschluss unserer neuesten Ausgabe haben Elisabeth, Leonard und Lara dieses lesenswerte Interview mit Schulleiterin und Bestsellerautorin Silke Müller über die Auswüchse von Social Media geführt. Silke Müller ist seit 2015 Schulleiterin der Waldschule Hatten in Niedersachsen und seit 2021 erste Digitalbotschafterin ihres Bundeslandes. Die Waldschule gehört in Sachen Medien wie unsere zu den Vorreitern in Deutschland. In unserer Partnerschule herrscht eine von Respekt geprägte Stimmung und ein tolles Miteinander. Ihr Buch ist aktuell in aller Munde und Silke Müller Gast in Deutschlands größten Talksendungen. „Ein aufwühlendes Buch“ (BILD), das endlich eine Debatte zu diesem wichtigen Thema entfacht hat.

Trotz unglaublich vieler Interviewanfragen hat Silke Müller uns sofort zugesagt: „Also wenn das Ernschtle anfragt, da bin ich natürlich dabei. Das hat Vorrang vor allem anderen.“  

Ernschtle: Ist es nicht nervig, so viel Aufmerksamkeit von den Medien zu bekommen?

Silke Müller: Ehrlicherweise ist es gerade sehr anstrengend, weil ich habe ja so wie der Herr Pallesche auch noch den Job, die Schule hier zu leiten, und unsere Schule in Niedersachsen ist tatsächlich noch ein bisschen größer als eure. Wir haben 850 SchülerInnen und 85 Lehrkräfte und ihr wisst selbst,  wie viel in so einer Schule los ist, was ihr als Schüler tun müsst, wie viele Aufgaben ihr als Schülerzeitung habt.  Und so gibt es natürlich auch einige Aufgaben, die ich zu erledigen habe. Parallel dazu sind es wirklich viele Anfragen, wo ich gar nicht genau weiß, wann ich diese Termine noch unterbringen soll. Fürs Ernschtle interviewt zu werden, Deutschlands beste Schülerzeitung, das ist natürlich auch eine Ehre. (alle lachen)

Ernschtle: Wann ist Ihnen das erste mal aufgefallen, dass es Kinder oder Jugendliche gibt, die solch schreckliche Bilder oder Videos besitzen und sie auch noch herumschicken?

Silke Müller: Ich kann das mit der Einführung von Instagram in Zusammenhang bringen, also vor rund zehn Jahren. Seit 2016/17 wurde es ein bisschen krasser dann, mit Snapchat und TikTok. Weil wir eine sehr offene Gesprächskultur an unserer Schule haben, sind ganz viele Schüler zu uns gekommen und haben uns Sachen gezeigt, die kein Mensch sehen will. Seitdem beschäftige ich mich mit dem Thema. Ich schaue natürlich ganz genau hin, was für Sachen gerade im Trend sind, was es für Challenges gibt. 

Ernschtle: Von wo haben die Kids die Videos und Bilder?

Silke Müller: Das ist total unterschiedlich. Entweder von Mitschülern oder ganz oft auch aus TikTok Videos, Instagram Reels, YouTube Shorts oder ganz oft auch von fremden Personen, z.B. übr Airdrop. Das hat eine Bandbreite, das ist kaum zu fassen.

Ernschtle: Welche Konsequenzen bekommen die Jugendlichen, die solche  Bilder und Videos rumschicken?

Silke Müller: Das kommt immer auch darauf an, in welcher Kategorie das läuft. Ich sag mal so: Wenn es „nur“ Gewaltvideos sind, wo niemand von unseren Schülern direkt betroffen ist, dann gibt es mildere Strafen. Wenn es überhaupt bestraft wird. Wir arbeiten pädagogisch mit den Kids und fragen sie „ Ey Leute, was ist mit euch los, dass ihr sowas verschickt?“ Wir bestrafen nicht alles. Anders sieht es aus, wenn Mitschüler betroffen sind oder wenn man Leute kennt. Ich mach mal dieses klassische Beispiel, und das ist auch leider nicht selten, vom Verschicken von Nacktbildern. Da gibt es einen klaren Kompass, da muss man ihnen klar machen, dass so etwas überhaupt nicht geht, dass es demütigend ist. Egal in welcher Situation ein solches Foto entstanden ist, das dann weiter zu schicken, das geht an die Würde des Menschen. Das funktioniert nicht und geht nicht und da werde ich sehr, sehr scharf in den Konsequenzen.

Ernschtle: Aber das Problem ist doch die Person, der/die diese Fotos teilt.

Silke Müller: Da hast du recht, das ist auch höchst problematisch. Leute, lasst den Knopf vom Finger, auch wenn ihr noch so verliebt seid und wenn euch noch so oft jemand darum bittet, intime Bilder zu schießen. Man muss aufpassen, was und wen man fotografiert. Das geht schon auf der Klassenfahrt los, wenn man jemanden schlafend im Bus fotografiert und danach meint, ein lustiges Meme daraus machen zu müssen. Das ist ja nicht nur saumäßig unfair und moralisch echt verwerflich,  sondern sogar strafbar.

Ernschtle: Wie versuchen sie dann solche Situationen in der Schule zu verhindern? Bieten sie Workshops an?

Silke Müller: Ich glaube, das ist deutschlandweit das Gleiche. Das macht  ihr bestimmt auch, dass ihr so Medienpädagogen habt oder bestimmte Schulungstage, Präventionstraining. Das Ziel ist, dass man immer wieder gesagt bekommt, was man darf und was nicht. Dass man auch weiß, wie sich das für andere anfühlt. Wir machen oft eine rechtliche Schulung mit einer Medienrechtsanwältin, andererseits arbeiten wir viel mit Sozialpädagogen. Ehrlicherweise gehört es aber auch zur Wahrheit, dass es dann manche immer noch nicht glauben wollen. Ihr hört ja bestimmt auch ganz viel über gesunde Ernährung, was man essen soll, usw. Das weiß ich auch und trotzdem greife ich leider viel zu häufig abends zur Packung Chips. Obwohl ich weiß, wie ungesund das ist, für mein Körper, meine Haut, meine Haare usw. Das wissen wir alles und wir machen es trotzdem. So kann man das ein bisschen vergleichen mit Social Media. Man muss einfach wissen, dass diese ganzen Plattformen von den Machern absichtlich so programmiert worden sind, dass die Menschen abhängig von ihnen werden. Man kann manchmal gar nicht anders, als da  kurz rein zu gucken.

Ernschtle: Welche Auswirkungen hat das auf Kinder oder Jugendliche? 

Silke Müller: Auch das ist wieder ganz unterschiedlich. Wir haben ältere Schüler, die sowas schon öfters gesehen haben, die sind womöglich „abgehärtet“ und resistenter gegen diese Art der Gewalt, die juckher Mist nicht weiter. Doch dann gibt es auch Schüler, die sind total geschockt, und mit denen müssen wir echt arbeiten. Viele sind ein bisschen traumatisiert. Größere Auswirkungen haben Gewaltvideos insbesondere auf kleinere und feinfühligere Kinder. Es gibt Kinder und Jugendliche, die sich in ihre eigene Welt zurückziehen. Oft weiß man dann gar nicht mehr richtig, wie man an sie rankommen soll. Das Gleiche bei Cyber Mobbing. Ich finde es immer sehr bedenklich, dass man nie so ganz genau weiß, was das mit den Kindern macht. Wann ist die Grenze erreicht, wo sie es nicht mehr aushalten können und was machen sie dann? 

Ernschtle: Welche Lösung würden sie vorschlagen für die Politik, um Kinder und Jugendliche vor solchen Inhalten zu schützen?

Silke Müller: Ich glaube, dass es dringend notwendig ist, sich das Jugendschutzgesetz mal näher anzugucken. Wenn ihr in Karlsruhe auf ein Stadtfest oder in die Disko wollt, dann braucht ihr diesen Muttizettel. Es ist festgelegt, bis wann mein Kind raus gehen darf. Genauso ist festgeschrieben, wann man das erste Bier trinken darf, welche Filme man schauen darf, das ist alles festgeschrieben. Nirgends steht aber auch nur ein Satz über die Nutzung eines Smartphones. Auch müsste man darüber nachdenken, ob es wirklich so gut ist, dass jeder Mensch anonym ins Netz gehen kann. Wie ihr wisst, kann sich jeder einfach bei Snapchat anmelden und dann bin ich plötzlich aber nicht mehr Silke43 sondern melde mich als Silke13 an. Ohne, dass das irgendjemand überprüft. Wenn man seinen Personalausweis hinterlegen müsste, könnte man das Problem vielleicht eindämmen. Doch ihr seid ja Redakteure und Journalisten, ihr habt schon mal was vom Begriff Zensur gehört. Dass einfach irgendjemand entscheidet, ob etwas veröffentlicht werden darf oder nicht. Das ist auch geschichtlich bedingt ein ganz schwieriges Thema. Wir haben lange für Freiheiten wie die Pressefreiheit gekämpft. China ist das beste Beispiel um zu vergleichen, was passiert, wenn der Staat alles zensiert, was ihm nicht passt. Auf der anderen Seite müsste es eine Art Zensur geben, die Foltervideos und andere Gewaltexzesse, aber auch Nacktvideos von Kindern, sofort erkennt und löscht. Ich bin mir sicher, das KI da helfen kann. 

Ernschtle: Sie meinten ja, dass man den Ausweis zeige sollte. Aber gebe es dann nicht Probleme mit dem Datenschutzgesetz? 

Silke Müller: Die jetzige DSGVO (Datenschutzgrundverordnung) ist in einer Zeit entstanden, in der es noch nicht diese Probleme gab. Ich glaube, dass wir über diese Datenschutzgeschichte sprechen müssen, denn was wir bei den sozialen Netzwerken jeden Tag an Daten verschenken, das ist unglaublich. Wir verkaufen die ja nicht mal, wir verschenken sie. Man meldet sich an, man gibt Fotos preis, man gibt seine Handynummer preis, man gibt im Grunde alles preis. Du hast schon recht, das würde im Moment ein Problem geben, Stichwort Vorratsdatenspeicherung. Man sollte jedoch darüber diskutieren, ob sich die Datensicherheitsbestimmungen nicht anpassen lassen müssten. Zu viele junge Menschen sind im im Netzt völlig kontrolllos unterwegs. Sie müssen dringend besser geschützt werden. 

Ernschtle: Ja, das glauben wir auch. Vielen Dank, Frau Müller und bis bald in Karlsruhe oder Hatten!

steinmetz@ernschtle.de

Mein Name ist Elisabeth Steinmetz und ich gehe in die 8a. Ich bin erst seit diesem Schuljahr im Ernschtle. Mich interessieren jegliche gesellschaftliche Themen genauso wie die Recherche darüber. Deshalb schaue ich mir auch immer gerne Dokus über die Gesellschaft an oder über Tiere, das Universum oder auch über Politik. Ich freue mich auf die Zeit, die ich im Ernschtle erleben werde.

Review overview
NO COMMENTS

Sorry, the comment form is closed at this time.